Eine neue Weltordnung formiert sich. Wie genau sie aussieht, können wir derzeit nur erahnen. Die ersten Umrisse sehen wir in der Neuordnung des Welthandels durch Maßnahmen wie höhere Zölle. Umso wichtiger ist es, dass wir uns in Deutschland und in Europa auf unsere Stärken besinnen. Jetzt geht es um Klarheit, den richtigen Fokus und Umsetzungsstärke.
In der Unternehmenswelt würde man sagen, Deutschland ist ein klarer Turnaround-Fall. Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wandel sind da – und der Koalitionsvertrag beinhaltet erste Impulse. Daraus muss nun ein echter „Aktionsplan für Deutschland“ für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit werden. Entscheidend wird sein, die richtigen Zukunftsbranchen zu fördern, während sich traditionelle Leitindustrien neu erfinden müssen. Nur so können wir im globalen Machtgefüge relevant bleiben.
Zu lange wurde die Gesundheitswirtschaft und ihr Potenzial als Wohlstandsfaktor für Deutschland verkannt. Dabei ist sie eine Zukunftsbranche und sollte eine Schlüsselrolle als Leitindustrie spielen. Mit fast acht Millionen Beschäftigten und einem Anteil von 12,5 Prozent an der Bruttowertschöpfung ist sie ein wichtiger Pfeiler der deutschen Wirtschaft. Als innovative und dynamische Branche bietet sie ein enormes Potenzial. Um das auszuschöpfen, müssen wir die medizinische Versorgung in Deutschland neu denken. Die gute Nachricht ist: Es mangelt nicht am Geld im Gesundheitssystem. Das System ist aktuell aber ineffizient und ineffektiv. Daher braucht es jetzt fünf strategische Prioritäten.
Strategische Standortpolitik
Erstens: Eine strategische Standortpolitik entwickeln. Ohne Priorisierung der Gesundheitswirtschaft als Leitindustrie verlieren wir im internationalen Wettbewerb an Boden. Statt Subventionsspirale braucht es eine strategische und auf EU-Ebene koordinierte Industriepolitik, wettbewerbsfördernde Rahmenbedingungen, mehr Technologieoffenheit sowie einen vertieften europäischen Binnenmarkt für medizinische Güter und Dienstleistungen. Die Anerkennung der Branche als „Leitwirtschaft“ im Koalitionsvertrag der deutschen Regierung ist daher ein erster wichtiger Schritt.
Durchgängiges digitales Ökosystem
Zweitens: Ein durchgängiges digitales Ökosystem schaffen. Digitalisierung und KI ermöglichen Quantensprünge in der Behandlungsqualität und Effizienz. Dazu müssen die Prozesse nahtlos digitalisiert werden und ineinandergreifen – von der Diagnose über die Behandlung bis hin zur Nachsorge. Digitalisierung muss vor allem in den Kliniken stattfinden, um das volle Potenzial zu nutzen. Andere EU-Länder sind hier viel weiter. In Deutschland scheitern solche Lösungen zu oft am vermeintlichen Gegensatz zwischen Datenschutz und medizinischem Fortschritt.
Silos aufbrechen
Drittens: Silos aufbrechen. Um eine Versorgung auf Spitzenniveau sicherzustellen, müssen die viel zu starren Sektorgrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufgelöst werden. Denn diese sorgten bislang für Ineffizienz und Mehrkosten. Zudem brauchen wir Vergütungssysteme, die sich am Behandlungsergebnis und der Qualität orientieren. So wie es bisher läuft, geht es zu Lasten von Patientinnen und Patienten.
Europäische Souveränität stärken
Viertens: Europäische Souveränität stärken. Wir können uns chronische Lieferengpässe und Knappheit von Arzneimittel-Grundstoffen nicht länger leisten. Die Produktion pharmazeutischer Wirkstoffe, lebenswichtiger Medikamente und systemrelevanter Produkte wie Antibiotika, Impfstoffe und Notfallmedikamente muss wieder in Europa stattfinden. Dazu brauchen wir keine Subventionen, sondern eine faire Preisfindung für lokale Produkte – und vor allem langfristige Planungssicherheit.
Bürokratie auf den Prüfstand
Fünftens: Überbordende Bürokratie muss radikal auf den Prüfstand. Ärzte und Pflegekräfte widmen der Dokumentation im Durchschnitt drei Stunden pro Tag. Zeit, die dringend für die Patientenversorgung genutzt werden sollte. Im europäischen Binnenmarkt müssen wir deshalb Hürden bei der Zulassung von Produkten und klinischen Studien weiter abbauen. Smarte Regulatorik muss bundesweit, besser noch europaweit, harmonisiert werden, und es braucht eine schnellere Anerkennung von ausländischen Qualifikationen bei medizinischen Fachkräften. Hier stehen wir im Wettbewerb mit dem Rest der Welt.
Kurzum: Unsere Gesundheitsversorgung muss digitaler, resilienter und effizienter werden. Dann haben wir eine echte Chance, wieder zur „Apotheke der Welt“ zu werden.
Hinzu kommt: Auch bei der Verteidigungsfähigkeit spielt das zivile Gesundheits- und Sanitätswesen eine zentrale Rolle. Angesichts geopolitischer Verschiebungen ein Grund mehr, die Gesundheitswirtschaft als Leitindustrie strategisch zu stärken und auszubauen.
Dazu braucht es einen Paradigmenwechsel: Die medizinische Versorgung darf nicht länger als reiner Kostenfaktor, sondern sollte als Wohlstandfaktor verstanden werden – für Wachstum, Arbeitsplätze, Innovation, Sicherheit und für die Gesundheit unserer Bevölkerung.
Michael Sen (56) ist seit Oktober 2022 Vorstandsvorsitzender des DAX 40-Unternehmens Fresenius. Zudem ist er Aufsichtsratsvorsitzender des Dialyse-Anbieters Fresenius Medical Care, ebenfalls im DAX 40 gelistet. Vor seinem Wechsel zu Fresenius war der Wirtschaftsmanager Mitglied des Vorstands von Siemens und dort für das Gesundheits- und Energiegeschäft verantwortlich. In dieser Zeit brachte er Siemens Healthineers an die Börse. Davor war er als Finanzvorstand beim Energiekonzern E.ON tätig. Sen startete seine Berufslaufbahn mit einer Lehre bei Siemens, bevor er an der Technischen Universität in Berlin Betriebswirtschaftslehre studierte.
In Europa für Europa: Fresenius ist stark in der EU vertreten
Fresenius ist ein globales Gesundheitsunternehmen mit weltweit 176.000 Mitarbeitern und ist in 80 Ländern aktiv. Das Unternehmen, das 1912 aus einer Apotheke in Frankfurt am Main hervorging, ist im Börsenindex DAX 40 notiert und hat seinen Unternehmenssitz in Bad Homburg v.d. Höhe. Im vergangenen Jahr machte Fresenius in der EU einen Umsatz von 14,9 Milliarden Euro. Das sind 69 Prozent des Fresenius-Gesamtumsatzes. Die Investitionen verteilen sich ähnlich: Auch der Großteil der Gesamtinvestitionen (Capex) wurde in der EU getätigt.
Fresenius beschäftigt rund 140.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der EU, darunter ca. 85.000 in Deutschland und über 300 in den Niederlanden. In Deutschland ist Fresenius mit fast 7.000 Auszubildenden und dualen Studenten einer der bedeutendsten Ausbildungsunternehmen.
Zum Geschäft in der EU gehören die Klinikketten von Helios in Deutschland und Quirónsalud in Spanien. Mit rund 130 Kliniken, darunter rund 80 in Deutschland, und etwa 350 medizinischen Versorgungszentren ist Fresenius Helios der größte private Krankenhausbetreiber in der EU. 26 Millionen Patienten werden dort pro Jahr versorgt.
Zu Fresenius gehört auch Fresenius Kabi mit den Bereichen Biopharma, Medizintechnik, klinische Ernährung und Pharma. Fresenius Kabi betreibt 23 Produktionsstätten, darunter auch Compounding-Zentren, in 10 EU-Ländern.
In Deutschland stellt Fresenius Kabi in Friedberg und Mihla Infusions- und Spüllösungen, intravenöse Generika wie Paracetamol, parenterale Ernährung und medizintechnische Produkte her. Darüber hinaus unterhält das Unternehmen drei Forschungs- und Entwicklungszentren (Friedberg, Bad Hersfeld, Bad Homburg), ein Logistikzentrum in Friedberg und einen Technical Service Hub in Alzenau.
In den Niederlanden stellt das Unternehmen am Produktionsstandort Emmer-Compascuum Sondennahrung für die enterale Ernährung her. In Huis ter Heide befinden sich außerdem Büros mit Vertriebs- und Marketingteams und dem technischen Support.