Gegründet 1999, also zu einer Zeit, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, startete Bol.com zunächst als Online-Buchhändler. Über zwei Jahrzehnte hinweg hat sich das Unternehmen Schritt für Schritt zum „Online-Warenhaus der Niederlande“ entwickelt. Interessant dabei: Bol.com hat deutsche Wurzeln – gegründet wurde das Unternehmen vom Bertelsmann-Konzern in Köln.
Heute ist Bol.com für die meisten Niederländer die erste Anlaufstelle beim Online-Shopping – so selbstverständlich wie in Deutschland Amazon oder früher Otto.
Amazons verspäteter Einstieg
Als Amazon 2020 mit Amazon.nl offiziell in den niederländischen Markt einstieg, war das Terrain des Online-Handels bereits durch Bol und andere lokale Marken besetzt. Dirk Mulder, E-Commerce-Experte von der ING, erinnerte sich in einem Interview mit NPO Radio 1 daran, dass Amazon „mit einer schlecht übersetzten Kopie der deutschen Webseite und langen Lieferzeiten“ startete – kein guter Einstand in einem Land, in dem Online-Shopping längst Alltag war.
Denn die Erfolgsformel, mit der Amazon weltweit groß wurde – schneller Versand, riesiges Sortiment, kulante Rückgaben und eine nutzerfreundliche Plattform – erwies sich in den Niederlanden als wenig revolutionär. All das, womit Amazon anderswo Maßstäbe setzte, war in den Niederlanden bereits Branchenstandard.
Anspruchsvolle Kundschaft vertraut auf das „Bol-Gefühl“
Die Niederländer gelten beim Onlineshopping als besonders serviceorientiert. Sie erwarten Flexibilität, Verlässlichkeit und die Möglichkeit, ihre Einkäufe nahtlos in den Alltag zu integrieren. Wer online bestellt, will genau bestimmen können, wann und wo das Paket ankommt – im Zweifel lieber an einem Abholpunkt als vor der Haustür.
Bol.com bietet dafür ein engmaschiges Netz von Paketboxen, unter anderem in fast allen Albert-Heijn-Supermärkten, und punktet mit günstiger Same-Day-Delivery. Amazon versuchte, mit einem besonders günstigen Prime-Angebot Kunden zu gewinnen – günstiger als in jedem anderen europäischen Land – doch das reichte nicht. Bol.com blieb näher dran am niederländischen Alltag, an der Sprache und am Humor seiner Kundschaft.
Die Marktplatz-Logik: Warum Händler den Unterschied machen
Ein wesentlicher Grund für Bol.coms Vorsprung ist die frühe und breite Einbindung von Händlern. Über die Jahre ist ein großes Netzwerk lokaler und regionaler Verkäufer entstanden, die Bol als zusätzlichen Vertriebskanal nutzen. Wie bei allen großen Marktplätzen verläuft diese Zusammenarbeit nicht immer reibungslos. Auch Bol.com steht regelmäßig in der Kritik, etwa bei Gebühren, Sichtbarkeit oder Support. Dennoch schätzen viele Händler die vergleichsweise klaren Strukturen, die niederländischsprachige Betreuung und die enge Verzahnung mit dem heimischen Markt. Das wirkt sich direkt auf die Kundenerfahrung aus: Produktseiten sind meist gut gepflegt, Lieferzeiten realistisch, der Service verlässlich.
Amazon bietet Händlern hingegen vor allem eines: internationale Skalierung. Zusätzlich unterstützt der Konzern sie mit neuen KI-Tools für Content, Übersetzung und Preisoptimierung. Für wachstumsorientierte Marken ist das attraktiv. Gleichzeitig gilt Amazon als deutlich strenger in seinen Anforderungen: komplexe Prozesse, harte Leistungskennzahlen, wenig individueller Support und Gebühren, die sich schnell summieren können.
Hinzu kommt die häufig geäußerte Kritik an unübersichtlichen Marktplatzstrukturen und problematischem Dropshipping, insbesondere mit Billigware aus China, was das Vertrauen vieler Konsumenten belastet. Vor diesem Hintergrund entscheiden sich viele niederländische Händler weiterhin primär für Bol – nicht aus Idealismus, sondern weil regionale Marktkenntnis, Sprache und operative Abläufe besser zum lokalen Umfeld passen. Da die Händlerleistung die Kundenerfahrung unmittelbar prägt, bleibt dieser Verkäuferfokus ein zentraler Grund dafür, dass Bol.com im Gesamtmarkt weiterhin vor Amazon liegt.
Amazons Gegenoffensive
Doch genau hier setzt Amazon nun an. In den kommenden drei Jahren will der US-Konzern 1,4 Milliarden Euro in den niederländischen Markt investieren – in neue Logistikzentren, tausend zusätzliche Abholpunkte und KI-gestützte Tools, die kleinen und mittleren Unternehmen helfen sollen, ihre Produkte über Amazon zu verkaufen. Rund 4.500 niederländische KMU sind bereits auf Amazon aktiv, drei Viertel von ihnen exportieren ihre Produkte ins Ausland. Dieses „Fenster zur Welt“ verschafft Amazon eine klare Stärke, die lokale Plattformen kaum bieten können.
Aktuell erzielt Amazon in den Niederlanden einen Umsatz von rund 1 Milliarde Euro, während Bol.com bei über 4,5 Milliarden Euro liegt. Es ist ein massiver Versuch, aufzuholen. Experten wie Kitty Koelemeijer von der Nyenrode-Universität sehen darin ein ernstzunehmendes Signal: „Das ist auch für ein Unternehmen wie Amazon eine außergewöhnlich hohe Summe. Aber ob Geld allein reicht, um Bol und die anderen Mitbewerber zu verdrängen, ist fraglich.“ Amazons Milliardenoffensive zeigt, dass der Kampf um die niederländischen Warenkörbe gerade erst richtig beginnt.