Logo der Deutsch-Niederländische Handelskammer

Verantwoordingsdag in den Niederlanden: Wo liegen Chancen für deutsche Unternehmen?

  • News

In einem Gastbeitrag analysiert Kevin Zuidhof, Gründer und Geschäftsführer der Public-Affairs-Agentur IvCB, die Ergebnisse des ‘Verantwoordingsdag’ am 21. Mai 2025 – und zeigt auf, wo deutsche Unternehmen gezielt ansetzen können.

Twee mannen staan in de tweede kamer voor bijltjesdag

Immer am dritten Mittwoch im Mai heißt es in Den Haag: Kassensturz. Am sogenannten Verantwoordingsdag (Tag der Rechenschaftspflicht) legt das niederländische Kabinett dem Parlament den Jahresfinanzbericht vor. Die Abgeordneten werden darin informiert, wie politische Ziele umgesetzt und öffentliche Gelder eingesetzt wurden. Das Urteil des niederländischen Rechnungshofs, der als unabhängiges Gremium den Umgang der Regierung mit Staatsfinanzen prüft, fiel dabei in diesem Jahr ungewöhnlich scharf aus: Drei Ministerien – Außenpolitik, Verteidigung und Justiz – wurden wegen schwerer Mängel in der Haushaltsführung kritisiert. Die zentrale Botschaft: Ohne konsequente Umsetzung ist Politik unglaubwürdig.

Unzureichende Umsetzung bietet strategischen Spielraum

Laut Rechnungshof verfolgt die Regierung mit Blick auf zentrale Zukunftsthemen wie Klima, Digitalisierung und Infrastruktur zwar ehrgeizige Ziele, aber: Bei der Umsetzung hapert es gewaltig. Personalmangel, komplexe Vorschriften und veraltete ICT-Systeme führen dazu, dass zur Verfügung stehendes Budget nicht genutzt wird. Mehr als 6 Milliarden Euro an bereits zugewiesenen Mitteln wurden im Jahr 2024 nicht abgerufen. Vom Nationalen Wachstumsfonds etwa wurde etwa nur 53% des für Digitalisierungsprojekte und KI reservierten Betrags ausgegeben. Der Grund: mangelnder Projektreife. Besonders betroffen: das Wirtschaftsministerium (EZK), das mit einer Minderausgabe von 1,2 Milliarden Euro an der Spitze steht – vor allem in den Bereichen Klima, Energie und Innovation. Der Rechnungshof spricht von „Ambitionen ohne Umsetzungskraft“ und warnt vor weiteren Verzögerungen bei dringend benötigten Transformationsprojekten.

 

Im Außenministerium führte ein neues ICT-System dazu, dass Ausgaben in Höhe von rund 16 Milliarden Euro nicht mehr nachvollzogen werden können – ein Grund für den Rechnungshof, eine offizielle Beschwerde einzureichen.

 

So gravierend die Defizite sind – sie eröffnen auch Raum für Lösungen. Denn wo der Staat ins Straucheln gerät, können Unternehmen mit Know-how, Technologie und strategischem Blick Mehrwert schaffen. Gerade für deutsche Unternehmen, die in den Niederlanden aktiv sind, ergeben sich hier konkrete Chancen: Ob in der Digitalisierung öffentlicher Systeme, im Projektmanagement oder im Aufbau resilienter Strukturen – gefordert sind jetzt Partner, die Umsetzungsstärke mitbringen.

Energie und Industrie

Im Bereich der Energiepolitik sieht der niederländische Rechnungshof deutlichen Nachholbedarf: Klimaziele geraten außer Reichweite, weil Entscheidungen zu langsam getroffen, Maßnahmen schlecht aufeinander abgestimmt und Ressourcen nicht ausgeschöpft werden. Der Umbau stockt – und das trotz Milliardenbudget.

 

Dennoch gibt es Lichtblicke: Die Ausgleichsregelung für hohe Energiekosten lief 2024 erfolgreich an – allerdings zu spät für den Mittelstand. Rund 100 Millionen Euro werden nun wegen geringer Wirkung zurückgefordert. Auch die Klimapolitik wirkt widersprüchlich: Wärmepumpen und Wärmenetze werden parallel gefördert, ohne klare Abstimmung – mit der Folge, dass Projekte in mehreren Gemeinden ins Stocken geraten sind.

 

Besonders kritisch ist die Umsetzung der Energiesparverpflichtungen für Unternehmen: Weniger als die Hälfte der vorgesehenen Kontrollen wurde durchgeführt. Das erhöht den Druck auf die Politik, effektiver zu handeln – etwa durch verbindlichere Vorgaben oder steuerliche Anreize für CO₂-Reduktion in der Industrie.

 

Die deutsche Beteiligung von Gasunie am Aufbau des nationalen Wasserstoffnetzes (H2-Startnetz) und die niederländische Beteiligung an grenzüberschreitenden Projekten wie dem Delta-Rhein-Korridor zeigen, dass die öffentlich-private Zusammenarbeit in diesem Bereich bereits in Bewegung ist - und weiter ausgebaut werden sollte.

 

Für deutsche Unternehmen in den Niederlanden ergibt sich daraus eine doppelte Chance: Erstens ist Anpassung gefragt – Stichwort nachhaltige Transformation. Zweitens entstehen neue Märkte für Klima-Lösungen, etwa rund um grüne Wasserstofftechnologien und CCS-Technologie. Gerade bei grenzüberschreitenden Innovationsprojekten können sich deutsche und niederländische Unternehmen gegenseitig stärken.

 

Große Investitionen wie das 44,4-Milliarden-Euro-Darlehen für den Netzbetreiber TenneT – Teil des niederländischen Energiesystemplans 2050 – unterstreichen den politischen Willen. Jetzt braucht es vor allem eines: Partner mit Umsetzungskompetenz.

Logistik und Infrastruktur

Teile der Infrastruktur werden marode und anfällig für Störungen, zugleich werden notwendige Neuinvestitionen und Sanierungen aufgeschoben. Der Sanierungsrückstand der für Bau und Unterhalt von Straßen und Wasserwegen zuständigen Behörde Rijkswaterstaat beträgt derzeit mehr als 25 Milliarden Euro – das bietet konkrete Chancen für Bauunternehmen, Instandhaltungsdienstleister und Technologieanbieter – etwa im Bereich Sensorik. Und das Marktpotenzial wird noch größer: Laut Investitionsagenda des Ministeriums für Infrastruktur und Wasserwirtschaft wird der Sanierungsbedarf bis 2035 auf 35 Milliarden Euro steigen, davon sind bereits 10 Milliarden strukturell gebunden.

 

Für deutsche Unternehmen ergeben sich vor allem dort Chancen, wo es in den Niederlanden an Umsetzungskapazitäten mangelt. Umgekehrt können niederländische Unternehmen, die über Fachwissen in den Bereichen Wasserbau oder Tunnelsicherheit verfügen, die Möglichkeiten in Deutschland nutzen, wo ebenfalls Milliardenbeträge für die Infrastruktur zur Verfügung stehen. Auch die grenzüberschreitende Infrastruktur rückt stärker in den Fokus – etwa bei der Niedersachsenlinie oder im Binnenschiffsverkehr. Hier braucht es enge Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern und wirtschaftlichen Akteuren auf beiden Seiten der Grenze.

 

Der Investitionsstau ist nicht neu: 2024 wurden 1,7 Milliarden Euro an geplanten Infrastrukturausgaben nicht umgesetzt. Der Rechnungshof spricht offen von einem „chronischen Mangel an Instandhaltungsbudgets“ bei ProRail und Rijkswaterstaat. Für die Wirtschaft bedeutet das zwar verzögerte Nachfrage – aber auch einen absehbaren Investitionsschub bei Renovierungs- und Modernisierungsprojekten.

Für deutsche Unternehmen ergeben sich vor allem dort Chancen, wo es in den Niederlanden an Umsetzungskapazitäten mangelt. 

 

~ Kevin Zuidhof 

 

Kevin Zuidhof, IvCB Public Affairs & Stakeholdermanagement

Arbeitsmarkt

Der niederländische Arbeitsmarkt bleibt angespannt – und das spürt auch der öffentliche Sektor. Die Zahl unbesetzter Stellen in Ministerien und Behörden hat sich vervierfacht: Rund 32.000 Positionen bleiben offen. Ein strukturelles Problem, das sich quer durch viele Branchen zieht.

 

Besonders betroffen: das Gesundheitswesen und technische Berufe. Allein in den Krankenhäusern liegt die Vakanzquote bei 9,1 %. Ohne neue Impulse droht die Situation weiter zu eskalieren.

 

Vor diesem Hintergrund rückt die grenzüberschreitende Beschäftigung immer mehr in den Mittelpunkt. Seit April 2025 gilt das neue deutsch-niederländische Steuerabkommen, das es Grenzgängern erlaubt, bis zu 34 Tage pro Jahr ohne steuerliche Nachteile im Homeoffice zu arbeiten. Ein klarer Schritt in Richtung mehr Flexibilität, gerade für Fachkräfte im Grenzraum. Grenzüberschreitende Mobilität kann helfen, Personalengpässe zu bewältigen – auch das ist eine Chance für deutsche Unternehmen in den Niederlanden.

 

Die hohe Abhängigkeit von Zeitarbeit – in manchen Brachen beträgt sie bis zu 21 % – zeigt: Der Markt braucht langfristige Strategien statt kurzfristiger Lösungen. Wer hier mitdenkt und mitgestaltet, kann sich nicht nur Wettbewerbsvorteile sichern, sondern auch zur Stabilisierung eines Arbeitsmarktes beitragen, der dringend mehr Beweglichkeit braucht.

Digitalisierung und Innovation

Die niederländische Regierung investiert kräftig in Innovation – etwa über den Nationalen Wachstumsfonds und gezielte Digitalisierungsprogramme. Doch der Effekt dieser Maßnahmen zeigt sich oft erst mit Verzögerung. Laut Rechnungshof ist die Wirkung schwer messbar: Viele Ziele sind zu vage formuliert, konkrete Ergebnisse bleiben unklar. Das erschwert nicht nur die Bewertung des gesellschaftlichen Nutzens, sondern hemmt auch die politische Steuerung.

 

Gleichzeitig kämpfen viele Digitalisierungsprojekte im öffentlichen Sektor mit bekannten Problemen: veraltete IT-Systeme, zu wenig Fachpersonal und zu komplexe Prozesse. Als Antwort darauf fordern mehrere Parteien – darunter ChristenUnie, D66 und BBB – einen jährlichen „Simplification Day“ – einen politischen Impuls zur strukturellen Vereinfachung des Sozialleistungssystems, der Sozialversicherung und der Steuervorschriften. Für mittelständische Unternehmen könnte das spürbare Entlastung bringen: weniger Bürokratie, klarere Regeln und effizientere Abläufe. Auch für Technologie- und Innovationsunternehmen ergeben sich klare Chancen. 

 

Für Unternehmen aus dem Tech- oder Innovationssektor bieten sich aktuell beste Chancen, ihre Position zu stärken. Denn jetzt sind konkrete Lösungen gefragt – von Cybersicherheit über E-Government bis zu KI-gestützten Anwendungen in Logistik und Gesundheitswesen.  

 Für Unternehmen aus dem Tech- oder Innovationssektor bieten sich aktuell beste Chancen, ihre Position zu stärken. Denn jetzt sind konkrete Lösungen gefragt – von Cybersicherheit über E-Government bis zu KI-gestützten Anwendungen in Logistik und Gesundheitswesen. Zudem gibt es zahlreiche Chancen im Bereich der Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft: Denn die Digitalisierungskapazitäten des niederländischen Staates bleiben ausbaufähig. 2024 schnellten die Ausgaben für externes Personal deutlich nach oben – im Innenministerium um 44 %, im Finanzministerium um 20 %, im Justizbereich sogar um 31 %. Der Rechnungshof spricht von einer „strukturellen Abhängigkeit vom Markt“ – und genau hier kommen innovative KMU ins Spiel. Gleichzeitig blieben Millionen aus dem Nationalen Wachstumsfonds ungenutzt – gerade in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Der Grund: fehlende Umsetzungskraft und Projektreife. Wer jetzt mit praxistauglichen, skalierbaren Lösungen auftritt, trifft auf offene Türen.

Der Merz-Faktor

Seit dem 6. Mai 2025 steht Friedrich Merz (CDU) an der Spitze der Bundesregierung – und setzt früh klare Akzente: Europa soll stärker, digitaler und verteidigungsfähiger werden. Der neue Kurs in Berlin verändert auch das strategische Umfeld für die Zusammenarbeit mit den Niederlanden.

 

Mit Milliardeninvestitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Verteidigung stellt Deutschland die Weichen neu. Allein 18 Milliarden Euro sind für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft vorgesehen, weitere 4 Milliarden für Europas digitale Souveränität. Und Merz setzt sich für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas ein. Das öffnet Türen für grenzüberschreitende Projekte und Partnerschaften – gerade mit Blick auf Industrie, Energie und Innovation.

 

Auch in Den Haag stehen diese Themen weit oben auf der Agenda: Der Verteidigungshaushalt soll 2024 auf 20 Milliarden Euro steigen, die strategische Autonomie wird forciert. Doch es hakt bei der Umsetzung – der niederländische Rechnungshof warnt vor Engpässen bei Personal und Projektmanagement. Ohne eine beschleunigte Ausführung wird es den Niederlanden schwer fallen, mit dem deutsch-französischen Bestreben, Europa defensiv zu stärken, Schritt zu halten - ein Punkt, für den sich Merz stark einsetzt.

 

Für Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze heißt das: Wer bei digitalen Schlüsseltechnologien, Rüstungstechnologie oder Wasserstofflösungen mit Know-how und Skalierbarkeit punkten kann, ist gefragt. Die politische Richtung ist klar – jetzt braucht es konkrete Partnerschaften, um das Potenzial wirklich zu heben.

Fazit: Zwischen Rechenschaft und Aufbruch

Am Verantwoordingsdag wird zurückgeschaut – aber mit Blick nach vorn. Finanzminister Heinen (VVD) bringt es auf den Punkt: „Geld ist nicht umsonst – es muss erst verdient werden.“ Ein klarer Aufruf zum Realismus, der nicht nur für die Regierung gilt, sondern auch für Unternehmen, die sich strategisch in die zukünftige Politik einbringen wollen. Die Schlussfolgerungen des Rechnungshofs fließen in den Staatshaushalt 2026 ein, der am Prinsjesdag - dem dritten Dienstag im September - die politischen Schwerpunkte der kommenden Jahre festlegt.

Die Monate bis dahin sind entscheidend: Wer jetzt mit konkreten Lösungen, Partnerschaftsangeboten oder regulatorischen Impulsen auftritt, kann mitgestalten. Ob in Energie, Digitalisierung oder Infrastruktur – der politische Wille zur Veränderung ist da. Jetzt geht es um Umsetzung.

Oder wie Rechnungshofpräsident Peter Duisenberg sagte: „Zeigen Sie Ergebnisse. Halten Sie, was Sie versprechen.“ Für Unternehmen heißt das: Jetzt ist der Moment, sich zu positionieren – und mit guten Ideen echte Wirkung zu erzielen.

In den Kategorien:

Die neuesten Nachrichten lesen

Alle Neuigkeiten ansehen
  • Waterstof_AdobeStock_WEB.jpg Neuigkeiten

    Niederlande und Deutschland vorne beim grünen Wasserstoff

    Die Niederlande und Deutschland wollen gemeinsam dafür sorgen, dass grüner Wasserstoff hierzulande verkauft und genutzt wird. Zu diesem Zweck veranstalten sie eine Auktion im Wert von 3 Milliarden Euro: H2Global.

  • IMG20250320135410.jpg Neuigkeiten

    Rückblick: Leistungsschau Künstliche Intelligenz in der Logistikbranche

    Leistungsschau im Rahmen des Markterschließungsprogrammes zum Thema Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Logistikbranche vom 18. - 20. März 2025.

  • Header 6 Punkte für die neue Regierung Neuigkeiten

    100-Tage-Programm für die neue deutsche Bundesregierung

    In Berlin beginnt mehr als nur eine neue Legislaturperiode – es wird ein Kraftakt, den auch die Niederlande aufmerksam verfolgen. Die Wirtschaft auf beiden Seiten wartet auf klare Signale und neue Impulse. Das 100-Tage-Programm zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft, das die Deutsche Industrie- und Handelskammer formuliert hat, lässt sich ohne weiteres auch auf die deutsch-niederländische Wirtschaftspolitik zuschneiden.

Suchen Sie etwas Anderes?

In our information centre, you can find the latest news, downloads, videos, podcasts...

Zum Info Hub