Energie

Stadtwerke in Deutschland forcieren dezentrale Energiewende

19.07.2022

Die Energiemärkte befinden sich in der radikalsten Transformation seit ihrer Entstehung. Mit dem beschlossenen Ende der fossilen Energien und dem Ausbau der Erneuerbaren sowie Energieeffizienzmaßnahmen möchte die EU bis 2050 klimaneutral werden. Deutschland ist etwas ehrgeiziger und möchte dieses Ziel bereits 2045 erreichen.

Richtig ambitioniert sind einige Bundesländer wie Hessen, die bereits 2035 Net-Zero wirtschaften wollen. Das sind hochgesteckte Ziele. Denn 2020 betrug der Anteil der Erneuerbaren Energiequellen am Bruttoendenergieverbrauch aller Sektoren im EU-Durchschnitt 22,1 Prozent. Deutschland lag im oberen Mittelfeld mit rund 20 Prozent. Laut Eurostat, der Europäischen Statistikbehörde, gehören die Niederland zu den fünf Ländern mit dem geringsten Anteil an Erneuerbaren Energien. 2020 steuerten diese 14 Prozent bei.

Mit Sektorenkopplung Energieflüsse managen

Bruttoendenergieverbrauch umfasst neben Strom auch den Wärmebedarf in Gebäuden sowie die Sektoren Industrie, Energieerzeugung und Mobilität. Um die fossilen Energieträger in diesen Sektoren zu substituieren, müssen die Windkraft und Solar-, Geothermie- sowie Biogasanlagen in rasantem Tempo aufgebaut werden. Darüber hinaus müssen in industriellem Maßstab Technologien weiterentwickelt werden, die Wärme und Strom in andere Energieformen (Power2X) umwandeln sowie in großen Mengen speichern können. Vor allem aber müssen diese fünf Sektoren so miteinander verkoppelt werden, dass sie vorhandenen Energieflüsse flexibel, automatisiert und effektiv so miteinander teilen, dass auch bei Dunkelflauten der Energiebedarf jederzeit und überall gedeckt ist.

Erneuerbare Energien liegen jetzt im öffentlichen Interesse

Mit dem sogenannten Osterpaket von Wirtschaftsminister Robert Habeck könnte es mit der Energiewende in Deutschland jetzt zügig vorangehen. Bis 2030 möchte der Minister mindestens 80 Prozent des deutschen Bruttostromverbrauchs aus Erneuerbaren beziehen. Zwar müssen die Bundesländer die Energiewende umsetzen und fordern vom Bund schnellere Genehmigungsverfahren. Aber genau die sollen jetzt beschleunigt werden. Im Osterpaket erhält der Ausbau der Erneuerbaren Vorrang vor anderen öffentlichen Interessen. Gerade die Bundesländer sind dann gefordert, beim Ausbau vor allem der Wind- und Sonnenenergie in ihren Genehmigungsbehörden einen Gang zuzulegen. Wie sehr diese Diskussion zwischen Bund und Ländern bisher gebremst hat, zeigt die Tatsache, dass sechs Bundesländer noch kein Landesklimaschutzgesetz haben. Zudem gab es beim Ausbau der Windkraft faktisch seit Jahren kein Wachstum, weil wie in Bayern Politik und Bürger die Hürden so hochgelegt hatten, dass Windkraftanlagen überhaupt nur an wenigen Stadtorten genehmigungsfähig waren.

Energiewende von unten

Gleichwohl zeigen sich eine Verwaltungsstufe unter den Landesministerien erfreuliche Entwicklungen, dass und wie Deutschland seine Ziele erreichen könnte. Ein Grund für den Unterschied zwischen den Niederlanden und Deutschland liegt in der Struktur der Energiemärkte. Denn Deutschland ist mit über 900 Stadtwerken bei der Energieversorgung dezentral aufgestellt. Diese dezentrale Aufstellung wird ergänzt von immer mehr kleinen Kommunen, die sich aufgrund des örtlichen Engagements von Politik, Landwirten und Bürgern schon fast vollständig energieautark versorgen. Vier Beispiele von Stadtwerken aus Metropolregionen- und kleineren Kommunen zeigen, wie die Energiewende hierzulande „Buttom up“ gestaltet wird.

Städte, Regionen und Dörfer wollen Net-Zero schneller erreichen

Stadtwerke in Deutschland stehen traditionell im Spannungsfeld zwischen Bürgern und Politik. Meisten waren sie vor Jahren noch komplett in kommunaler Hand, was sich bis heute in den Beteiligungsstrukturen sowie der Besetzung von Aufsichtsräten, Vorständen und Leitungsfunktionen widerspiegelt. Häufig arbeiten dort noch Beamte und ehemalige Dezernenten und Referenten oder Kommunalpolitiker mit Kontakten in die Politik sitzen in den Gremien. Vor allem in Kommunen mit einer starken ökologischen Ausrichtung, verlangen die Stadtparlamente und die Bürger von ihren Stadtwerken mittlerweile eine Strategie für die Umsetzung der Energiewende. So formulieren mittlerweile fast alle Stadtwerke auf ihren Webseiten konkrete Ziele zur Reduzierung der CO2-Emissionen. Die meisten wollen ihren CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent senken und streben damit die „Fit for 55“-Ziele der EU an. Einige gehen aber einen Schritt weiter.

München deckt Strombedarf bereits zu 90 Prozent aus Erneuerbaren

Die Stadtwerke München (SWM) der bald 1,5 Millionen Einwohner zählenden Isarmetropole wollen sich komplett von Kohle und Kernenergie verabschieden. In nur zwölf Jahren gelang es, den Ökostrom-Anteil für die bayerische Hauptstadt von fünf auf 90 Prozent zu steigern, gaben die SWM am 18. Januar 2022 auf einer Pressekonferenz bekannt. Und zwar für alle Gebäude, Industrie und die U-Bahn. Bereits 2025 sollen Erneuerbare den Strombedarf trotz angenommener Steigerung von aktuell 6,3 Terrawattstunden (TWh) auf 8,4 TWh komplett decken. „Das ist ein historisches Datum“, sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter. „Wir vollenden damit, was wir vor vielen Jahren beschlossen haben.“ Auch SWM-Chef Florian Bieberbach zeigte sich zufrieden: „Auf das Erreichte sind wir stolz.“ Er sei zuversichtlich, dass 2025 ganz München mit 100 Prozent Ökostrom aus eigenen Anlagen versorgt werden könne. Große Photovoltaikanlagen (PVA) auf Freiflächen, PVA auf den Dächern der Stadt, Geothermie und Wasser- sowie Windkraft rund um die Isarstadt reichen dafür nicht aus. Ergänzend beteiligen die SWM an Off-Shore-Windkraftanalgen in der Nordsee, Solarthermie in Spanien und PV- und Wind-Großanalgen im europäischen Ausland. Schon länger setzen die SWM auf Strom und Fernwärme mit einem umweltschonenden Kraft-Wärme-Kopplungsprozess. Energieträger waren bisher Müll und Kohle. Aktuell erfolgt die Umstellung auf Erdgas, das die Kohle ersetzen soll, um den CO2-Ausstoß weiter zu senken. Perspektivisch wird das Gas durch grünen Wasserstoff ersetzt. Damit treiben die SWM die Energiewende auch im Wärmemarkt voran. Der Bedarf an Fernwärme soll bis spätestens 2040 CO2-neutral erfolgen, überwiegend aus Geothermie. Parallel dazu wird das Fernwärmenetz ertüchtigt, um mehr Haushalte und die Industrie anzuschließen.

Mannheim wird ab 2040 klimapositiv

Noch ehrgeiziger geht die Mannheimer MVV Energie AG an ihre Energiewende heran. Mit dem „Mannheimer Modell“ soll die an Rhein und Neckar gelegene Metropole mit knapp 310.000 Einwohnern bis 2040 klimaneutral und ab 2040 sogar klimapositiv werden. MVV-Chef Dr. Georg Müller kündigte im Oktober 2021 an: „Mit unserem ‚Mannheimer Modell‘ wollen wir eines der ersten klimapositiven Energieunternehmen werden.“ Bis 2030 möchte die MVV AG eine CO2-Reduktion von mindestens 80 Prozent im Vergleich zum Jahr 2018 erreichen. Als drittgrößtes deutsches Fernwärmeunternehmen versorgt die MVV-Gruppe nicht nur Mannheim sowie Teile der Metropolregion Rhein-Neckar mit Fernwärme, sondern durch seine Tochterunternehmen auch die Städte Kiel und Offenbach. Bundesweit stammen derzeit noch gut ein Drittel der deutschen CO2-Emissionen aus den Bereichen Warmwasser und Wärme in Gebäuden. MVV macht nun ihre Fernwärme Schritt für Schritt grün und stellt bis spätestens 2030 den Fernwärmebereich in Mannheim und der Metropolregion Rhein-Neckar vollständig auf grüne Energiequellen um. „Wir stehen vor der Zukunftsaufgabe, die Fernwärme zum zweiten Mal neu zu erfinden“, erläuterte Dr. Müller. „Hierbei setzen wir auf das breiteste aller grünen Strom- und Wärme-Portfolios deutscher Energieunternehmen“. Die MVV AG nutzt Abwärme aus Abfallbehandlung und Biomasse, der Klärschlammverwertung, regenerativen Energien wie Biomethan und künftig auch aus Flusswärmepumpen und der Geothermie und industrieller Abwärme. In den thermischen Abfallbehandlungsanlagen wird künftig das Treibhausgas nach der Verbrennung aus dem Rauch abgefangen, um es anschließend sicher zu speichern. Ab 2040 sollen alle Abfallbehandlungsanlagen durch CO2-Abscheidung dekarbonisiert sein und damit der Atmosphäre sogar noch CO2 entziehen. Ab dann wäre das Ziel „klimapositiv“ tatsächlich erreicht. Durch seine 100-Prozent-Beteiligungen an Juwi und Windwärts kann der Energiedienstleister auf Übergangslösungen wie den Neubau von Erdgas-Anlagen für die Stromproduktion komplett verzichten. Bis spätestens 2026 sollen zusätzliche 10.000 Megawatt aus erneuerbaren Quellen ans Netz gehen – aus Wind, Sonne, Biomasse und Biomethan. Das entspricht in etwa der installierten Leistung von zehn Großkraftwerken. Der gesamte Strom soll ab 2030 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien stammen.

Energieautarkes Dorf: Ascha in Bayer

Gerade 1.600-Einwohner leben im bayerischen Ascha. Die auf halben Weg zwischen Regensburg und Deggendorf gelegene Gemeinde gilt deutschlandweit als ein Vorzeigeort. In Ascha lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie die Energiewende von unten funktioniert. 1993 gründeten sechs ortsansässige Landwirte und die Gemeinde ein Biomasseheizkraftwerk, die Nahwärme Ascha GmbH. „Damals haben wir erkannt: Man kann gemeinsam etwas bewirken“, begründet Bürgermeister Wolfgang Zirngibl seine anfangs durchaus umstrittene Energiewendepolitik. Bis heute ist die 2011 überholte Anlage ein zentraler Bestandteil der Nahwärmeversorgung auf Hackschnitzelbasis. 2001 folgte eine Biogasanlage, 2004 wurde eine 2,5 Hektar große Freiland-Photovoltaikanlage errichtet. Die Gemeinde startete dann das Projekt „Bürgersolarkraftwerk Mehrzweckhalle“. Es folgten weitere PV-Anlagen auf gemeindeeigenen Dächern. Die Bürger wurden mit ihren Investitionen Eigentümer der PV-Anlagen und profitieren von den Steuervergünstigungen. In einem Neubaugebiet entwickelte die Gemeinde ein Bonussystem mit Förderung für den Einbau von energieeffizienten Technologien wie Wärmeschutzfenstern. Über einen Wettbewerb wurden die Bürger animiert, sich besonders stromsparende Haushaltsgeräte anzuschaffen. „Für uns rechnet sich das Engagement auf jeden Fall ideell und zum großen Teil auch finanziell“. Mittlerweile bindet die Gemeinde ihre Bürger in alle Energiefragen ein. „Mach aus den Betroffenen Beteiligte“, skizziert Wolfgang Zirngibl den Erfolg seiner Gemeinde. Seit 2017 deckt die Gemeinde bereits über 95 Prozent des elektrischen und thermischen Energiebedarfs aus Biomasse oder Solarenergie und bezeichnet sich heute als das „energieautarke Dorf“.

Energieautarkes Dorf Feldheim mit Nahwärme- und Stromnetz

Diese Auszeichnung hat sich auch der Ortsteil Feldheim der brandenburgischen Stadt Treuenbrietzen verdient. Hier wurde eines der spektakulärsten Gesamtkonzepte für eine dezentrale regenerative Energieversorgung von Unternehmen, Privathaushalten und Kommunen verwirklicht. Beteiligt an dem Projekt sind die Stadt Treuenbrietzen, die Anwohner des Ortsteils, die Agrargenossenschaft Fläming e.G. und der Projektentwickler Energiequelle GmbH. Die 37 Haushalte mit 130 Bewohnern, zwei Gewerbe- und drei Agrarbetriebe sind über ein Nahwärmenetz verbunden, das aus Biomasse Gas und Wärme sowie Strom produziert. 55 Windkraftanalgen erzeugen mit einer Leistung von 123 Megawatt rund 250 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr. Ergänzend trägt eine Lithium-Ionen-Speicheranlage mit einer Kapazität von 10.700 Kilowattstunden zur Sicherung der Netzfrequenz des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz bei. Eigentümerin des örtlichen Wärme-Netzes ist die Feldheim Energie GmbH & Co. KG, an der die Haushalte, Unternehmen sowie die Stadt Treuenbrietzen beteiligt sind. Das Stromnetz gehört der Energiequelle GmbH. Die Investitionsmittel brachten die Gemeinde zusammen mit den Anwohnern sowie zusätzlichen Mitteln des Landes sowie aus EU-Förderprogrammen auf.

Fazit: Die Energiewende von unten beschleunigt sich

Verstärkt durch den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine wird Deutschland nun sehr schnell auf die Energielieferungen aus Russland verzichten. Dass dies gelingt, hängt maßgeblich von der Geschwindigkeit ab, mit der die 900 Stadtwerke nun ihre Pläne umsetzen. Es ist sogar gut möglich, dass die gestiegenen Preise für fossile Energieträger den Prozess nun beschleunigt. Denn mit den hohen Preisen für Gas, Kohle und Öl könnten einige Stadtwerke ihre Investitionspläne vorziehen. Und damit würde sich die Dynamik der dezentralen Energiewende von unten sogar beschleunigen.

Text: Christian Gasche
Foto: Adobe

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